Aus der Schule Geplaudert…………
Wenn ich dieses Bild von mir betrachte, das mich von meiner besten, der sonnigen Seite zeigt, bekomme ich Lust, von mir zu erzählen, wie man so sagt, aus der Schule zu plaudern. Man sieht mir meine hundert Jahre nicht an, hoffe ich, obwohl ich im Laufe meines Lebens, so während des 2. Weltkrieges und der Flut von 1962 heftige Blessuren abbekommen habe. Meine täglichen kindlich-fröhlichen Gäste halten mich jung.
Doch laßt
mich von vorn beginnen:
Ich
wurde am 29. September (Michaelis) 1891 als Tochter der Schule Reiherstieg
geboren und erhielt zunächst nach meiner Mutterschule den Namen "Schule II
zu Reiherstieg". (Siehe 1.Konferenzprotokoll) Das Licht der Welt erblickte
ich als Schulneubau - ja, auch ich war einmal ein Neubau - im Jahre 1887, doch
selbständig wurde ich erst vier Jahre später am Michaelistag. Der
Michaelistag war damals ein wichtiger Termin im Schulleben, denn Michaelis und
Ostern gab es Zeugnisse. Ich wurde an der "Chaussee" errichtet, die später
in "Georg - Wilhelm - Straße" umbenannt wurde und hatte meine beiden
Ein- und Ausgänge auf jener Seite. Zur Zeit meiner Gründung schaute ich auf
eine weite dörfliche Landschaft herab. Wilhelmsburg hatte kaum mehr als 5000
Einwohner, und die Kinder der Bauern und Tagelöhner mußten oft weite und
schlechte Wege zur Schule gehen. Als älteste wird die Stillhornen Schule 1624
erwähnt.
Die
Schulen in Georgswerder und im Reiherstieg entstanden offenbar erst nach dem
30-jährigen Krieg.
Schon
in den ersten Jahren meiner Existenz wuchsen um mich herum große Industrie- und
Wohngebiete. So betrug die Einwohnerzahl im Jahre 1900 bereits 16640 und wuchs
weiter sprunghaft. Der Freihafen war 1888 eröffnet worden, und als erster großer
Industriebetrieb wurde hier 1889 die Wollkämmerei gegründet. Viele Eltern der
Kinder, die mich besuchten, arbeiteten dort.
Ich
hatte damals vier Klassenräume und mein erster Schulleiter war Hauptlehrer
Brammer. Wenn ich mich recht erinnere, wohnten die Hauptlehren in einer
Wohnung in meinem Innern. Übrigens bestanden zwischen dem 1. Lehrer
(Hauptlehrer) und einem 2, und 3. Lehrer beträchtliche Besoldungsunterschiede.
Vor hundert Jahren bekam am Reiherstieg der
1.
Lehrer 1500 Mark, der 2. Lehrer 1050 Mark und der 3. Lehrer 900 Mark.
Wohlgemerkt: im Jahr!
Nach
einem alten Protokoll besuchten mich im Oktober 1891 täglich durchschnittlich
278 Schüler. Diese Schüler und Schülerinnen verteilten sich auf 5 Klassen, für
die vier Räume und vier Lehrkräfte zur Verfügung standen. Es ist heute
unvorstellbar: Die durchschnittliche Klassenstärke betrug im April 1892 61
Schulkinder!
Klasse
I= 55, Klasse II = 61, Klasse III =56, Klasse IV =54, Klasse V = 79. Dazu muß
ich sagen, dass zu jener Zeit die Schulanfänger in Klasse V unterrichtet und
die Kinder nach Klasse I aus der Schule entlassen wurden.
In den
folgenden Jahren wurde für mich das Schulleben fast unerträglich. Immer mehr
Kinder - 1895 waren es 8 Klassen- drängten sich in meinen 4 Räumen und ich
drohte aus den Nähten zu platzen. Auch ein Neubau, der 1896 feierlich
eingeweiht wurde, entlastete mich nur vorübergehend. Fünfzehn Jahre nachdem
ich selbständig geworden war, also im Jahre 1906, wurden in meinen 16 Räumen
787 Schüler/innen unterrichtet, immerhin noch 50 Kinder im Klassendurchschnitt.
Der Kriegsausbruch im Jahre 1914 brachte entscheidende Veränderungen in meinem
Alltag, dem Schulalltag.
Einige
meiner Lehrer wurden als Soldaten eingezogen, Strümpfe und Pulswärmer wurden
in meinen Räumen gestrickt. Geld und kriegswichtige Materialien wie Metall,
Gummi und Papier wurden gesammelt. Gegen Ende des Krieges sammelten die Kinder
Brennnesseln für die Nesselfaser-Verwertungsgesellschaft, Kräuter und Blätter
als Ersatz für Kaffee, Tee und Kakao, ausgekämmte Haare zur Herstellung von
Treibriemen. Ich mußte mit ansehen, dass viele Wilhelmsburger Schüler unterernährt
und von Mangelkrankheiten bedroht waren. Betroffene Kinder sollten von Anfang
Mai bis Ende August zu Bauern in die Kreise Harburg, Gifhorn und Melzen
geschickt werden. Auch, was gab es zu jener Zeit für Lebensmittel- und
sonstige Bezugsscheine: Brotbücher, Fleischsonderkarten, Warenbezugskarten,
Knochenkarten, Milchkarten und Seifenkarten. Der Landaufenthalt kostete die
Eltern monatlich 5,-Mark. Ich weiß noch, dass es darüber hinaus noch
Schulreisen für besonders bedürftige Kinder gab. An die Schulferien meiner
ersten 25 Jahre erinner ich mich mit gemischten Gefühlen. Weihnachtsfeiern
unter dem Tannenbaum waren seit jeher in der Schulstube eine
Herzensangelegenheit, die neben dem Singen von Weihnachtsliedern kleinen Gaben
wie Lesezeichen mit Sprüchen und Backwerk für die Kleinen erwartungsfrohe
blanke Kinderaugen hervorbrachten.
Damit
nun aber die patriotische Begeisterung nicht zu kurz komme, wurde bis 1913 alljährlich
die Sedanfeier angewiesen. Damit sollte die Erinnerung an den größten
deutschen Sieg über Napoleon III im Jahre 1870 wachgehalten werden.
Festreden,
Gesang, Deklamationen bestimmten die Feiern; nun ja, die Kleinen durften sich
einen Tag von mir erholen, die Größeren brauchten nicht Geometrie oder
Mathematik zu lernen und manch ein Lehrer konnte sich in (begeisternder) vaterländischer
Rhetorik üben.
Der deutschen Feiern gab's in jenen Tagen noch mehr: Kaisers Geburtstag (Wilhelm II), der 100. Geburtstag des Kaisers Vater (Wilhelm 1 1897), die Silberhochzeit des Kaiserpaares(1906), 100 Jahre "Eisernes Kreuz" (1913), des Kaisers 25. Regierungsjubiläum (1913), die 100. Wiederkehr der Völkerschlacht bei Leipzig. Sicher, es gab auch andere Feiern wie Schillers 100. Geburtstag(l905) oder das 500 jährige Jubiläum der Reformation, doch meine ersten 25 Jahre waren ein höchstkaiserliches Vierteljahrhundert.
In der
Weimarer Zeit war ich Heimstatt zweier Schulen, der "Evangelisch-Lutherischen
Volksschule II Wilhelmsburg(Elbe)" und der "Sammelschule
Wilhelmsburg(Elbe)". Die Sammelschule war eine freie, weltliche Schule, die
von Kindern aus ganz Wilhelmsburg besucht wurde, deren Eltern keinen
Religionsunterricht wünschten. Diesen Teil von mir wollte man 1928 entweder
Karl-Marx-Schule oder nach der Straße hinter mir Lessing Schule nennen. Diese
Straße heißt jetzt Rotenhäuser Damm. Ihr verdanke ich meinen heutigen Namen.
Diese freie, weltliche Schule- bisweilen wurde ich auch eine rote Schule
genannt- hat die Schullandheim-Idee aktiv vertreten und kaufte 1924 im
Steinbecker Grund bei Buchholz ein Einfamilienhaus mit 1 ha Wald und Wiese.
"Eltern und Lehrer, Jugendliche und Kinder haben hier in treuer
kameradschaftlicher Beharrlichkeit ein soziales Werk geschaffen, wie es eben nur
eine einige Arbeiterschaft schaffen kann. Das sagte der Schulrat bei der
Einweihung 1927. Wie begeistert die Eltern dorthin zum Arbeitseinsatz an
Sonntagen hinausfuhren, erzählen alte Wilhelmsburger heute noch.
Dieses
Heim in Steinbeck könnte eine eigene und leidvolle Geschichte erzählen. Nach
1933 wurde es für das sogenannte "Landjahr" genutzt. 1939 wurden dort
Soldaten der Wehrmacht stationiert, erst eine Bau-, dann eine
Luftwaffenkompanie. Später wurde aus dem friedlichen Haus ein Arbeitslager für
Kriegsgefangene, das bis zum Kriegsende militärisch bewacht wurde. Aber nach
dem Ende des Krieges kamen wieder Kinder nach Steinbeck. Bis 1950 war es ein Zuhause,
Schule und Krankenhaus für Waisen und Halbwaisen, deren Eltern in
Konzentrationslagern umgekommen waren. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde
ich wie alle Schulen gleichgeschaltet, ich wurde eine Gemeinschaftsschule, in
der
Kinder
aller Konfessionen gemeinsam unterrichtet wurden. Wieder einmal mußte ich
meinen Namen wechseln und hieß nach 1937 Wilhelmsburg war ein Stadtteil
Hamburgs geworden- "Volksschule Hamburg-Wilhelmsburg 1 Hindenburgstraße
45" Hindenburgstraße? Ja, denn schon 1933 hatten die Nazis die
„Chaussee", an die ich mich so gewöhnt hatte, in Hindenburgstraße
umbenannt.
Ach ja,
und dann kam schon wieder ein Krieg! Als hätten "meine" Kinder im 1.
Weltkrieg nicht schon genug gelitten. Viele wurden mit Lehrern im Rahmen der
Schullandverschickung evakuiert bis nach Bayern und sogar Ungarn. Lehrer mußten
auch als Luftschutzwache in meinen oberen Räumen übernachten -meistens im
heutigen Nähraum- und melden, wenn mir etwas passierte. Und so geschah es auch,
dass mich eines Nachts eine Fliegerbombe traf und die Nordostecke schwer beschädigte.
Schaut euch nur dieses Bild an! Beim Wiederaufbau hat man mich um je zwei
Klassenräume, bzw. im Parterre um einen Raum und die Hausmeisterwohnung vergrößert.
1950 war ich zu einer richtig großen Schule gewachsen. 30 Klassen mit etwa 1200
Schülern tummelten sich in mir. Ich platzte aus allen Nähten und deshalb
entschloss man sich, mich -wieder einmal- zu teilen in Schule Georg-Wilhelm-Straße
45 Süd, die Herr Hübner mit 16 Klassen leitete. Für meinen anderen Teil,
Georg-Wilhelm-Straße 45 Nord wurde am 12. Januar 1950 der Mittelschullehrer
Werner Schäfer als Schulleiter eingesetzt.
Nun
trug ich diesen langen Namen, der sich noch auf alten Stempeln findet:
Volksschule für Jungen und Mädchen Hamburg-Wilhelmsburg-Nord
Hamburg-Wilhelmsburg
Georg-Wilhelm-Straße
45 Fernsprecher 388279
Ostern
1950 waren auch die letzten drei Klassenzimmer in meinem Nordflügel
bezugsfertig. Über das neue Gestühl und die neuen Tische habe ich mich
gefreut, doch die anderen Klassen hatten z.T. so wenig und schlechte Möbel,
dass viele meiner Kinder auf ehemaligen Luftschutzbänken ohne Lehne und auf Böcken
sitzen mussten. Meine alten Viererbänke mussten mit 6 Schülern besetzt
werden. In den Hamburger Schulen hatten damals nur 70% unserer Schüler Sitzplätze.
Ich erinnere mich, dass ich Ostern 1954 in große Not geriet, denn nur eine
9.Klasse ging ab, aber drei 1.Klassen kamen hinzu. 777 Schüler wurden in 19
Klassen von 20 Lehrkräften unterrichtet. In meinen Klassenräumen mußte man in
drei
Schichten
unterrichten.
Ich weiß
noch wie der Schulleiter 1956 stöhnte: "das letzte Schuljahr war für
unsere Schule ein Baujahr mit allen Sorgen und allem Kummer! Was war erreicht
worden? 5 schöne neue Klassenräume mit Gruppenarbeitsräumen und neuem Gestühl,
ein Mehrzweckraum(Chemie/Physik),eine Pappwerkstatt, im Erdgeschoss die
Hausmeisterwohnung, das Schulleiterzimmer, daneben das Hausmeister-Dienstzimmer,
im 1.Stock das große Lehrerzimmer mit einem besonderen Garderbenraum; in jedem
Stockwerk Toiletten für Jungen und Mädchen. Die Küche ist neu entstanden mit
abgeteiltem Theorieraum, auch mit neuen Möbeln und schönen Nebenräumen;
daneben hat man aus der ehemaligen Behelfs-Hausmeisterwohnung einen schönen
Nadelarbeitsraum geschaffen...."
Mehr
Sorgen als die Schulmängel machten mir in der Nachkriegszeit die materielle Not
meiner Kinder. Durch die Schulspeisung versuchte man, den Hunger ein wenig zu
lindern. Erst 1956 war das nicht mehr nötig.
Ich weiß
noch gut, dass der Turnunterricht im Winter oder bei schlechtem Wetter ausfallen
mußte. Später zogen die Kinder zum Sport in Säle von Gastwirtschaften und in
eine zur Turnhalle umgebaute Vi11a. Doch 1956 bekam ich Nachwuchs: Meine
Turnhalle wurde gebaut. Und am 10.1.57 zog ein Teil meiner Kinder (Schule Süd)
in einen Neubau am heutigen Perlstieg. So konnte ich 1961 die erste
Realschulklasse aufnehmen; die letzte wurde 1986 entlassen.
Ach ja,
von einem schlimmen Ereignis muss ich noch erzählen: In der Nacht zum
17.Februar 1962 brachen bei der Sturmflut die Deiche. Mein Keller und die Räume
im Parterre standen unter Wasser. In meinen oberen Stockwerken waren Flutgeschädigte
einquartiert.
Zwei
unserer heutigen Lehrkräfte -Frau Hawel (Frau Hawel ist übrigens seit vielen
Jahren stellvertretende Schulleiterin. Sie hat das gern und gut gemacht wer könnte
das besser beurteilen als ich ihre Schule und Herr Osternack- waren damals schon
dabei, schleppten Wassereimer, räumten auf wuschen und wischten, damit ich
wieder trockene Füße bekäme. Einige Zeit konnten mich die Kinder nicht
besuchen: der Unterricht wurde für sie in der Fährstraße wiederaufgenommen.
1963
wurde Hermann Schlichting mein Schulleiter. Und kaum ein Jahr später hatte
ich schon wieder Nachwuchs bekommen:1964 erblickten der Y-förmige Neubau und
die Pausenhalle das Licht der Schulwelt. Ich war stolz auf meine Kinder! In
meiner Realschulzeit war
viel
Leben in meinen Mauern,
die
Beatgruppen, die jährlichen Reisen in Skilager, der Schüleraustausch mit Göteborg,
das Theaterspielen.... Doch außen fühlte ich mich alt und grau, bis, ja bis
1985, als man mich zu meinem 94. Geburtstag mit einem neuen Farbanstrich überraschte
Seit 1984 ist Frau Kaiser meine Schulleiterin. 1987 bekam ich eine sogenannte
Eingangsstufe. Die fünf- und sechsjährigen Kinder werden so ohne Schulreifeprüfung
im Laufe zweier Jahre in das Schulleben hineingeführt.
Die
Neugründung einer Gesamtschule in meiner Nachbarschaft am Perlstieg zieht bei
mir die älteren Schüler ab. Seit 1986 bin ich eine Grundschule. Früher
nannte man mich einmal die "rote" Schule, heute bin ich eine bunte
Schule; immerhin gehen täglich Kinder aus 15 Ländern in mir ein und aus.
Hundert
Jahre alt? Ehrlich, ich fühle mich jünger denn je. In 25 Jahren wird bestimmt
wieder gefeiert. Dann gibt es wieder viel zu erzählen: den Kindern meiner
jetzigen Kinder.
Aus der
Festschrift anlässlich des 100. Geburtstages der Schule Rotenhäuser Damm 45,
1991
1. Klassenfoto vor der "Realschule" Rotenhäuser Damm. Müsste ungefähr 1916-18 aufgenommen sein. Die zweite von rechts neben der Lehrerin ist Margarethe Möller (geb.Aldag).
2. Ebenfalls Klassenfoto mit anderer Lehrerin. Ist wohl etwas später wie das andere Foto aufgenommen worden. Das Mädchen im schwarzen Kleid, erste Reihe mitte ist Margarethe Möller (geb.Aldag).
3. Lehrerkollegium von der Schule. Wohl auch zu der Zeit aufgenommen
Abb. 1., 2. u. 3. von Horst Möller steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz.