Um 1900 war Wilhelmsburg ein ansehnlicher Industriestandort mit etwa 20.000 Einwohnern. Von dem ehemaligen Marschendorf ist heute nicht mehr viel zu sehen. Viele der heute noch bestehenden Gründerzeitgebäude entstanden in dieser Zeit. Im Reiherstiegviertel gab es rege Bautätigkeiten: Vogelhüttendeich, Fährstraße und Veringstraße wurden ausgebaut, an der Mengestraße entstand das große rote Rathaus.
1. September 1903: Gründung der "Volksbibliothek zu Wilhelmsburg" durch Heinrich Meyer, dem Rektor der Schule Fährstraße (damals Schule III genannt).
Die Bibliothek beginnt mit einem Bestand von 84 Bänden (heute sind es knapp 16.000 Medien), das Lehrerzimmer der Schule dient als Ausgabestelle. Ausleihe und Rücknahme der Bücher sind zunächst nur am Ende der täglichen Schulzeit möglich.
Diese erste Wilhelmsburger Bücherei ist eine sogenannte Thekenbibliothek. Die Nutzer haben keinen direkten Zugang zu den Büchern, der Bibliothekar beziehungsweise der Lehrer sucht die Bücher für sie heraus. Der Lehrer Gustav Bosenick leitet die Volksbibliothek Wilhelmsburg von 1903 - 1913.
Jeder erwachsene Einwohner Wilhelmsburgs kann sich eine "Erlaubniskarte" zur Benutzung der Bibliothek ausstellen lassen. Jede Entleihung kostet 5 Pfennige, die Leihfrist beträgt 2 Wochen.
1905 gibt es bereits 5 Ausgabestellen in Wilhelmsburger Schulen: Schule Fährstraße, Schule Rotenhäuser Damm, Schule Georgswerder, Schule am Ernst-August-Kanal, Schule am Bahnhof.
Die Ausgabestellen der Volksbibliothek zu Wilhelmsburg verfügen über 419 Bände, mit denen sie 3.676 Ausleihen erzielen. Das heißt, jedes Buch wird etwa 9mal ausgeliehen.
Am 1. Oktober 1905 wird die erste "Lesehalle" der "Volksbibliothek zu Wilhelmsburg" in der Fährstraße 57 (heute Fährstraße 79) eröffnet. Ein großer Erfolg, denn noch 5 Jahre vorher war die Einrichtung vom Gemeinderat abgelehnt worden. Von Anfang an wurde die Lesehalle sehr gut besucht, die Zahl der Benutzer ging schon bald in die Hunderte.
1909 wechselt die Volksbibliothek in die Fährstraße 47 (heute Fährstraße 69). Die günstige Lage in unmittelbarer Nähe zum Veringplatz führt zu einem sprunghaften Anstieg der Ausleihe. Die Ausgabestellen werden geschlossen und die Bibliothek nennt sich stolz "Öffentliche Bücherhalle".
1912 zieht die Volksbibliothek in die Kurze Straße 5 um (heute Otterhaken/Ecke Rudolfstraße). In diesen Räumen bleibt die Bibliothek bis Juli 1930. Der Bestand wächst auf 3.000 Bände an.
1927 wird Wilhelmsburg gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung mit Harburg vereinigt.
Juli 1930 bezieht die Volksbibliothek zu Wilhelmsburg neue, größere Räume in der Veringstraße 69. Der vorhandene Buchbestand wird auf 3.500 Bände ergänzt. Die Bibliothek ist jetzt eine Zweigstelle der Stadtbücherei Harburg – Wilhelmsburg.
1933: Anhand eines "Säuberungskatalogs" müssen unerwünschte Bücher aus dem Bestand der Stadtteilbibliothek entfernt werden. Die hauptamtliche Bibliothekarin muss gehen. Die Bibliothek wird nur noch zweimal wöchentlich plus (anfangs) samstags von Harburg aus an wenigen Nachmittagsstunden betreut. Die Folge ist ein starker Benutzungsrückgang.
Am 1. April 1937 tritt das "Groß-Hamburg-Gesetz" in Kraft. Im Rahmen der Eingemeindung der Stadt Harburg-Wilhelmsburg in "Groß-Hamburg" wird die Stadtbücherei Wilhelmsburg der "Hamburgischen Fachstelle für das Volksbüchereiwesen" unterstellt.
1940: Die Stadtbücherei Harburg wird mit ihren Zweigstellen Teil der Hamburger Öffentlichen Bücherhallen.
1944 wird die Bücherhalle Wilhemsburg zerstört. Ein geringer Teil des Bestandes wird gerettet und in der Volksschule Kurdamm, später im Saal einer Gaststätte in Kirchdorf gelagert.
Im Mai 1949 wird die Bücherhalle Wilhelmsburg in einem kleinen Laden in der Fährstraße 62 provisorisch mit 3.200 Bänden wiedereröffnet.
Im August 1950 kann die Bücherhalle mit Hilfe der "Deutschen Wohnungsbaugesellschaft Harburg" größere Räume in der Veringstraße 65 – 67 beziehen. In diesen Räumen bleibt die Bücherhalle bis 1999.
1953 wird die Bücherhalle auf das Freihandsystem umgestellt und es wird eine Kinderbücherei eingerichtet. Jetzt können die Leser direkt an die Regale und sich dort selbst ihre Bücher aussuchen.
Heute eine Selbstverständlichkeit, doch in den 50ern ein Novum. Auch die Kinder und Jugendlichen dürfen sich – übrigens schon seit 1952, also vor den Erwachsenen - selbst die Bücher aussuchen - allerdings nur mit gewaschenen Händen! Bis 1962 wächst der Buchbestand auf 12.000 Bände an.
Die Flutkatastrophe im Februar 1962, von der Wilhelmsburg besonders schwer betroffen ist, vernichtet etwa 1.800 Bücher und verwüstet die Räume der Bücherhalle. 1.000 bis 2.000 leicht beschädigte Bände können noch repariert werden.
Mit Hilfe von 25.000 DM Sondermitteln und Spenden können die Schäden gemildert werden. Am 15. Oktober 1962 wird die Bücherhalle nach langer Renovierungspause mit 13.000 Bänden wieder eröffnet.
Bereits in den späten 1950er und 60er Jahren werden Vorlesestunden für Kinder angeboten. Immer dienstags von 14-15 Uhr ist große Vorlesestunde in der Bücherhalle Veringstraße. Den Kleinen im Alter von 5-8 Jahren und den Großen von 8-12 Jahren wird getrennt vorgelesen von "Frollein" Preiser und Fräulein Fenske (ab 1963 Bibliotheksleitung).
In den 60er Jahren durften kleine Kinder nur in Begleitung ihrer Eltern in die Bücherhalle. Erst als Schulkinder durften sie allein oder mit ihren älteren Geschwistern kommen.
Im Juli 1971 wird die Ausleihfläche der Bücherhalle vergrößert. Die Büroräume werden in die erste Etage des Hauses verlegt. Somit kann das ganze Untergeschoss für das Publikum genutzt werden.
Der Stadtteil verändert sich: Nach den Erfahrungen mit der Sturmflut sind viele alteingesessene Wilhelmsburger in andere Stadtteile gezogen. In die leergewordenen Wohnungen ziehen Migranten, damals noch "Gastarbeiter" oder einfach "Ausländer" genannt.
1983 beträgt der Anteil an nicht in Deutschland geborenen Lesern im Wilhelmsburger Westen 21,5 Prozent, davon 17,7 Prozent aus der Türkei. (Harburger Rundschau vom 16.2.1983). Die Bücherhalle reagiert mit einem verstärkten Angebot an fremdsprachigen Büchern, die sehr gut ausgeliehen werden. Zusätzlich bietet die Bücherhalle eine erste Lesung in türkischer Sprache an.
In der Zeit von 1983 - 1988 kann die Bücherhalle mit Hilfe von bibliothekarischen ABM-Kräften eine intensive Arbeit mit Kindern aufbauen.
Von 1985 – 1995 arbeitet der türkische Schriftsteller und Lehrer Dursun Akcam in der Bücherhalle Wilhelmsburg. Er übernimmt die Rolle des Mittlers zwischen Deutschen und Türken und organisiert unter anderem zweisprachige Lesungen mit bekannten türkischen Autoren.
1986 entsteht in Zusammenarbeit mit den Wilhelmsburger Schulen ein Mal-, Aufsatz- und Gedichtwettbewerb, an dem sich mehr als 200 Jungen und Mädchen beteiligen.
Zur Abschlussveranstaltung im Bürgerhaus, einem internationalen Fest, kommen fast 1.000 Wilhelmsburger. Unter anderem tritt dort auch Wolf Biermann auf. In der Broschüre "Bir Demet" werden die besten Schülerarbeiten in deutscher und türkischer Sprache veröffentlicht.
Der Beitrag eines türkischen Mädchens schildert den Zwiespalt, in dem viele Mädchen hier aufwachsen: Der Vater verlangt, getreu dem islamischen Glauben, gesenktem Hauptes und mit verschleiertem Gesicht zu gehen - die Lehrer empfehlen, hoch erhobenen Hauptes zu gehen und sich zu bilden. "Sag' mir, was soll ich tun?"
Im Jahr 1987, 25 Jahre nach der Flut, erstellt die Bücherhalle Wilhelmsburg eine Fotoausstellung: "Die Sturmflut von 1962 und ihre Folgen in Wilhelmsburg". Innerhalb kurzer Zeit erhält die Bücherhalle von Wilhelmsburger Bürgern 1.500 Fotos, Dias und Negative. Von ungefähr 250 ausgewählten Fotos werden Abzüge und Vergrößerungen angefertigt. Die Ausstellung stößt auf sehr großes Interesse. Heute sind diese Fotos in digitalisierter Form in der Bücherhalle Wilhelmsburg einzusehen.
1988 organisieren die Bücherhallen Wilhelmsburg und Kirchdorf gemeinsam mit dem Bürgerhaus Wilhelmsburg ein Internationales Kulturfest. Die Teilnehmer sind Türken, Kurden, Portugiesen, Italiener, Jugoslawen und Deutsche. Aus der Türkei treten Sänger mit nationalem Ruf wie Melike Demirag, Fuat Saka und Sivan Perwer auf. Die Autoren Ömer Polat und Peter Schütt lesen eigene Texte, die sich ausschließlich mit Ausländerproblematiken beschäftigen. Das Fest beginnt mittags und dauert bis weit nach Mitternacht an. Es kommen rund 1.500 Besucher ins Bürgerhaus.
Mit dem Projekt Bildwege erstellen 1991 zwei Hamburger Fotografen ein Porträt von Wilhelmsburg und seinen Bewohnern, unter anderem auch von den Mitarbeiterinnen der Bücherhalle Wilhelmsburg.
Von September 1992 bis April 1993 wird die Bücherhalle auf EDV umgestellt und gründlich renoviert.
Im November 1998 droht die Bücherhalle Wilhelmsburg, wie auch andere Bücherhallen, ein Opfer der Sparmaßnahmen des Hamburger Senats zu werden. Engagierte Wilhelmsburger Bürger demonstrieren gegen die Schließung ihrer Bücherhalle. Der Protest zeigt Erfolg: Die Bücherhalle bleibt erhalten und wird an einen neuen Standort verlegt.
Am 30. April 1999 hat die Bücherhalle Wilhelmsburg nach 49 Jahren ihren letzten Ausleihtag in der Veringstraße 65-67.
Am 31. Mai 1999 wird die Bücherhalle Wilhelmsburg am neuen Standort, Vogelhüttendeich 45, von Kultursenatorin Dr. Christina Weiß wieder eröffnet. Der Neubau wurde von der Stadtentwicklungsbehörde geplant und finanziert.
Ab 2000 bietet die Bücherhalle Computerkurse für Kinder an. Die 6-10jährigen Kinder lernen dabei den selbständigen Umgang mit dem Computer.
Ende Oktober 2000 beginnt das Projekt Hausaufgabenhilfe in der Bücherhalle Wilhelmsburg. An drei Nachmittagen können Kinder Unterstützung bei den Hausaufgaben bekommen. Diese Hilfe wird von Honorarkräften übernommen. Die Mittel dafür bekommt die Bücherhalle zunächst aus dem Verfügungsfond für das Sanierungsgebiet Wilhelmsburg S4, später vom Rotary-Club und der Bußgeldstelle. Ab 2006 übernimmt die Wilhelmsburger Firma UMCO – Umwelt Consult GmbH eine feste Patenschaft für das Projekt.
2001 finden sich in der Presse immer mehr Artikel, die Wilhelmsburg zum Problemstadtteil mit zu vielen Migranten erklären. Während dieser Zeit intensiviert die Bücherhalle ihre Angebote für Migranten, kauft verstärkt türkische und kurdische Literatur und schafft Computer-Sprachkurse zum spielerischen Deutschlernen an. Gleichzeitig ist sie Treffpunkt für Lesehungrige aller Nationalitäten.
2003 feiert die Bücherhalle Wilhelmsburg mit einer Festwoche ihren 100. Geburtstag. Barbara Schmidt, Leitung der Bücherhalle, freut sich zahlreiche Gratulanten in der Bücherhalle begrüßen zu können.
Ein Höhepunkt ist die Lesung aus dem Buch "Wilhelmines Gedächtnis", in dem fünf Frauen im Alter zwischen 49 und 77 Jahren ihre unterschiedlichen Lebensgeschichten schildern, die zum Teil eng mit dem Stadtteil Wilhelmsburg verknüpft sind.
Die Bücherhalle hat nun einen Bestand von fast 20.000 Medien. Seit dem Umzug in den Vogelhüttendeich stieg die Ausleihe um 21,2% , die Besucherzahlen nahmen um 76% zu.
(Ausleihe: Von 62.000 ME im Jahr 1998 auf 75.120 ME im Jahr 2001. Die Besucherzahlen stiegen von 40.608 auf 71.745 Besucher im Jahr 2002.)
2006 startet Angela Wolf, engagierte Wilhelmsburgerin und von Beruf Logopädin, das Projekt Lesetraining . Auslöser ist die Erkenntnis, dass viele Kinder des Stadtteils trotz Schulunterricht nicht richtig lesen können oder den Sinn der Texte nicht verstehen.
Das Projekt startet mit zwei Ehrenamtlichen. Heute engagieren sich 25 junge und alte Menschen vorrangig aus dem Viertel. Einmal pro Woche treffen sich das Kind und seine Lesetrainerin oder sein Lesetrainer in der Bücherhalle Wilhelmsburg und üben eine Stunde miteinander Lesen.
Ebenfalls 2006 wird erneut über Einsparungen bei den Bücherhallen diskutiert. Auch die Existenz der beiden Wilhelmsburger Bücherhallen ist bedroht, erste Protestaktionen werden initiiert. Zum Glück können die Einsparungen abgewendet werden.
2010 startet in der Bücherhalle Wilhelmsburg das Projekt Dialog in Deutsch. Dabei handelt es sich um ein offenes, kostenloses Gesprächsangebot für alle Menschen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Zwei Ehrenamtliche betreuen die Gruppe, die sich einmal pro Woche bei Kaffee und Tee in der Bücherhalle trifft. Sie sprechen über Alltägliches, kulturelle Unterschiede und bringen oft selbstgebackene Leckereien aus ihren Heimatländern mit.
Im Februar 2012 erinnert die Bücherhalle mit einer Foto-Ausstellung und einer bewegenden Abendveranstaltung an die Sturmflut vor 50 Jahren. Zeitzeugen berichten, wie sie die Flutkatastrophe erlebt haben. Später kommen die zahlreichen Besucher spontan miteinander ins Gespräch und tauschen ihre Erinnerungen aus.
01. September 2014: Wir feiern unser 111. Jubiläum und freuen uns über die Treue und Wertschätzung, die uns von den Wilhelmsburgern entgegen gebracht wird!
Quelle:
http://www.buecherhallen.de/wilhelmsburg-111-jahre-buecherhalle
Bücherhalle Wilhelmsburg: So vielseitig wie der Stadtteil (PDF)